Auf Augenhöhe sein oder die Fuck up-Dissertation: Anne

Anne habe ich bei einer Online-Schreibwoche zu Corona-Zeiten kennengelernt, die ich 2020 mit meinem Kollegen Dr. Sven Arnold begleitete. Mir fiel damals das künstlerisch ansprechende Architektur-Foto auf, mit dem sich Anne auf dem Online-Board vorstellte. Fotografieren sei ihr Hobby, berichtete sie, und sie selbst sei Bauforscherin.

Anne kontaktierte mich später ab und an, um ihre Dissertation über die Baugeschichte von Laubenganghäuser des Bauhauses fertigzustellen. Ihre Stelle im DFG-Projekt, das sie mit eingeworben hatte, war inzwischen beendet. Sie stand als Alleinerziehende und Berufstätige unter Druck; die Dissertation bearbeitete sie an Wochenenden und früh am Morgen. Ich freute mich mit ihr, als sie Mitte 2021 das Werk einreichen konnte. Und dann schrieb sie mir, dass ihre Dissertation abgelehnt worden sei.

Ich war genauso schockiert wie sie. Ich hatte so etwas in meiner bald zwanzigjährigen Praxis noch nie erlebt und meine Kolleg*innen auch nicht. Was ich dagegen kannte: dass Betreuungspersonen VOR der Abgabe aktiv wurden, um eine nach ihrer Einschätzung schwache Dissertation so weit zu retten, dass sie wenigstens mit „rite“ bestehen konnte. „Rite“ ist die schwächste Note, die in Deutschland einer Dissertation verliehen werden kann. Wer als Betreuungsperson eine Dissertation am Ende ablehnt, gibt daher nach meinem Verständnis zu, die Betreuungspflichten nicht erfüllt zu haben – in Form eben der Bereitschaft und Aufgabe zur rechtzeitigen Intervention.

Wir berieten die nächsten Schritte. Anne entschloss sich zur Überarbeitung der in den Gutachten aufgelisteten Mängel und zum zweiten Versuch. Das war für sie auch ein finanzieller Kraftakt, da sie ihre Erwerbstätigkeit partiell reduzierte, um an der Dissertation arbeiten zu können. Es gelang ihr, eine finanzielle Unterstützung für den Neudruck der einzureichenden Belegexemplare einzuwerben. Es half alles nichts. Ihr Betreuer lehnte ihre Dissertation nach der zweiten Einreichung 2023 endgültig ab. Anne erfuhr in einem persönlichen Gespräch davon. An dieser Stelle begann sie, alle Kräfte zu mobilisieren und holte sich Unterstützung für einen Widerspruch.

Wie konnte es so weit kommen? Und wie geht es Anne jetzt? Mich beeindruckte bereits ihr Mut, den zweiten Versuch anzugehen, und die ruhige Art und Weise, den Verlauf Ihrer Promotion aufzuarbeiten und gezielte Rückfragen an Beteiligte zu stellen. Für mich ist sie allein deswegen eine Promotionsheldin! Ich habe Anne nun mit dem Abstand von mehreren Monaten nach der Geschichte ihrer Fuck up-Dissertation befragt. Es ging mir dabei ähnlich wie Anne darum, die Vorgänge zu verstehen. Die Pirouetten, die ich beim Schreiben dafür drehen musste, sind für mich Ausdruck des ganzen Problems. Mir ist davon regelrecht schwindelig geworden, die Geschichte so zu formulieren, dass die Sätze nicht justiziabel und keine beteiligte Person in ihrem Ruf beschädigt wird. Ich hoffe, es ist gelungen. Ich danke den Rechtsbeiständen für ihre Unterstützung.

Was Bauforschung und Medizin gemeinsam haben

Anne beschreibt die Bauforschung als ihre Leidenschaft: in die Planung und Verwirklichung eines Gebäudes einzutauchen vom Bauauftrag bis zum verbauten Material sowie die anschließende Nutzung und Veränderung zu dokumentieren. Das Vorgehen gleiche dem Vorgehen in der Medizin: Einer Anamnese folge eine Diagnose und dann eine Behandlung, und die Instandhaltung eines Gebäudes entspräche der Gesundheitsvorsorge in der Medizin.

Wegen des Klimawandels werde Bauen im Bestand immer wichtiger werden, um Ressourcen zu schonen, sagt Anne. Dafür brauche es auch Bauforschung.

Bau(haus)geschichten

Mehrere Lagen an Seitenrändern, Detail einer Archivakte

Foto: Häuserchronistin

Für das DFG-Projekt der Laubenganghäuser rekonstruierte Anne über Archivarbeit, Objektbegehungen, Baupläne, Grundrisse und Fotos die Entstehungs- und Nutzungsgeschichte. Die damalige Lehre am Bauhaus unter Hannes Meyer war ungewöhnlich, weil sie die Architekturstudenten aktiv in die Praxis schickte und bauen ließ. Der Auftrag lautete damals, für eine Wohnungsgenossenschaft erschwinglichen Wohnraum zu schaffen. Annes Doktorarbeit zeichnet diese Umsetzung nach.

Dieses „Learning by doing“ ließ sich nachträglich nur durch eine Puzzle-Arbeit unterschiedlichster Dokumente rekonstruieren. (Als Historikerin würde ich das Mikrogeschichte nennen.) Dazu gehörte, dass Anne den Kontakt mit Bewohnerinnen und Bewohner suchte und sie nach Nutzungsgeschichten und ihrem Leben in den gebauten Räumen befragte. Beim gemeinsamen Blättern in alten Mietverträgen oder in privaten Fotoalben fand sie dann wertvolle Hinweise auf die ursprüngliche Gestaltung von Raumdetails wie Fensterprofilen oder Heizungseinbauten oder ihre späteren Veränderungen.

Auf Augenhöhe versus Machtgefälle

Mehrere Erker einer historischen Wohnsiedlung

Prenzlauer Promenade, Foto: Häuserchronistin

Für Anne sind die menschlichen Begegnungen „auf Augenhöhe“ das Spannendste an der Bauforschung, weil die Menschen persönlich davon erzählen, wie sie die für sie gebauten Räume tatsächlich nutzten und nutzen. Sie sieht darin zu Recht einen Beitrag zur Sozialgeschichte des Wohnens.

Auf Augenhöhe sah sich Anne auch mit den Projektaufgaben. Sie entwickelte eine Datenbank und leitete Studierende an. Mit ihrem Betreuer duzte sie sich irgendwann. Er stellte ihr auch eine Verlängerung in Aussicht, aber dann klappte es nicht. Die Gründe hat Anne nicht erfahren. Sie arbeitete ihren Nachfolger noch ein.

Vielleicht spielte eine Rolle, dass sie bereits Berufserfahrung hatte und daher selbstbewusster das Projekt managte, als es eine junge Doktorandin getan hätte. Als arbeitslose Alleinerziehende bekam Anne plötzlich das Machtgefälle einer Promotionsbeziehung zu spüren. Sie  nahm nach einer Weile eine Stelle in einem Architekturbüro an, das sich auch um Sanierung der Laubenganghäuser kümmerte. Sie brauchte einen Lebensunterhalt und die Arbeit machte ihr Spaß, und das Architekturbüro brauchte ihre Expertise.

Die Veröffentlichung der Fuck up Dissertation

Die Ablehnung ihrer Dissertation löste in Anne zunächst eine Schreibblockade aus. Sie blieb aber nicht tatenlos, sondern wandte sich an die DFG-Ombudsperson ihrer Universität sowie an den Ombudsman für die Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, bei Konflikten in DFG-Projekten zu vermitteln. Außerdem ließ sie sich vom „Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft“ und dem Deutschen Verband für Kunstgeschichte beraten. Gemeinsam mit der DFG-Ombudsfrau und der Rechtsabteilung ihrer Universität sowie einem Rechtsanwalt verhandelte sie schließlich eine schriftliche Vereinbarung über die Verwertung ihrer Daten und ihres Manuskripts: Ohne ihre Zustimmung darf nun kein Auszug veröffentlicht werden. Denn – Ironie der Geschichte – ihr Betreuer hat als Projektbericht eine Veröffentlichung angekündigt, der ein Teil von Annes Doktorarbeit zugrundeliegen wird.

Für mich fühlt es sich wie Machtmissbrauch an. War es Zufall, dass der Betreuer im Bearbeitungszeitraum von Annes Dissertation zu einem partiell inhaltlich sehr ähnlichem Themenfeld die eigene Doktorarbeit an einer anderen Universität einreichte? Diese und andere Fragen konnte oder wollte keine der Instanzen aufarbeiten, die sich mit Konflikten um Doktorarbeiten befassen. Für mich bleibt ein schales Gefühl von Willkür zurück, die in verkrusteten Strukturen der Wissenschaft überleben darf.

Blick nach oben in einem historischen überdachten Innenhof

Leipzig, Foto: Häuserchronistin

Annes Fall ist leider typisch für Konflikte um Autorschaft und Datennutzung, wie es die aktuelle Studie (Dezember 2024) über die Arbeit der DFG-Ombudsleute belegt. Diese stellt auch fest, dass solche Konflikte „regelmäßig von Missständen in weiteren Bereichen überlagert werden: von einer fehlenden bzw. unzureichenden Kommunikation oder einer unzulänglichen Betreuung etwa, aber ebenso auch von Machtmissbrauch oder Mobbing“, was die Beratung, Vermittlung und Lösungsfindung verkompliziere. Tatsächlich hat Anne die Wiedereinreichung gewagt, weil die erste Ablehnung – so erklärt sie sich ihren Mut im Nachhinein – paradoxerweise erstmals ein umfassendes Feedback auf ihre Arbeit gewesen sei.

Statt mit der publizierten Dissertation hat Anne ihre achtjährige Promotionsphase also mit einer offiziellen Veröffentlichungsvereinbarung beendet. Nicht mehr als Doktorandin zu verhandeln, gab ihr Auftrieb. Sie siezt ihren Ex-Betreuer inzwischen wieder, stellt den Aufwand für das Lektorat des Manuskripts in Rechnung und entwickelt eigene Buchprojekte. Auf Instagram baut die Häuserchronistin gerade ein neues Profil als Bauforscherin auf, um auf die Vielfältigkeit und Notwendigkeit dieses Berufes zu verweisen. Was das Veröffentlichen ihrer Expertise angeht, entfaltet sie weit kreativere Zugänge und Formen, als die Wissenschaft ihr bietet. Ja, sie ist wieder auf Augenhöhe mit ihrer Leidenschaft.

Daniela Liebscher