„Wenn ich nur einen Doktortitel gewollt hätte, hätte ich es mir einfacher machen können“, fasst Gabriele ihre Promotionsjahre zusammen. Die Soziologin hat über die Kaufmannsehre von Händlern auf dem Großen Basar in Istanbul geforscht.
Kürzlich hat sie sich wieder bei mir gemeldet, um mir von ihrer erfolgreichen Promotion zu berichten. Ihre Dissertation ist als Monografie erschienen und bereits sehr gut rezensiert worden. Inzwischen lehrt Gabriele an der Uni Regensburg.
Ich habe mich besonders gefreut zu erfahren, wie sie ihrem Projekt bis zum Schluss treu geblieben ist. Nach Ablauf eines Stipendiums finanzierte sie sich dank der Unterstützung der Eltern und mit Hilfe von Gelegenheitsjobs. Vor allem kämpfte sie ihre Forschungsarbeit gegen Widerstände in ihrem akademischen Umfeld durch. Deswegen ist sie für mich eine Promotionsheldin, und hier ist ihre Geschichte:
Ein diverser Blick ….
Von Anfang an erlebte Gabriele fast jede ihrer Entscheidungen in Bezug auf ihr Thema und ihre Forschung als umstritten. Als würde sie überall anecken. Sie kam damals in meine Schreibberatung, um ihr Exposé zu überarbeiten. Einer der bekanntesten deutschen Türkeiforscher hatte kurz zuvor abgesagt, sie als Doktorandin anzunehmen. Beide waren sich uneinig über die philosophische Fundierung des Ehrbegriffes. Für Gabriele war es auf Grund ihrer philosophischen Vorbildung wissenschaftlich nicht tragbar, Ehrenmord und traditionelle Rollenvorstellungen als „Ehre“ zu vermarkten. Es gelang ihr tatsächlich wenig später, einen anderen Doktorvater zu finden und ein Stipendium einzuwerben. Das war der Stand, als wir uns per Skype das letzte Mal vor etwa sechs Jahren sprachen.
Das „Anecken“ hatte meiner Ansicht nach vermutlich mehrere Gründe: Da war
1) eine junge wissbegierige, deutsche Frau
2) aus einer nicht-akademischen Familie, die sich die Freiheit herausgenommen hat,
3) ohne Migrationshintergrund
4) wirtschaftliche Beziehungen in der modernen Türkei mit einem scheinbar so archaischen Begriff wie der „Ehre“ zusammenzubringen. Die Klischees in der deutschen Türkeiforschung von „Ehrenmord“ und Frauenunterdrückung kritisiert sie in ihrer Forschung als Missbrauch und Fehlverwendung des Ehrbegriffs, die keiner philosophischen und wissenschaftlichen Begründung standhalten. Am Beispiel der „Handelsehre“ zeigte sie vielmehr die positive Seite der Ehre auf: Als Beziehung, in der beide Seiten Preise so aushandeln, dass niemand das Gesicht verliert, und gerechte Tauschbeziehungen stattfinden.
Gabriele fällte ihre Entscheidungen mit einer gewissen Autonomie, auch die Entscheidung,
5) einen türkischen Professor als Zweitbetreuer hinzuzuziehen, weil er an einer der wenigen fundierten wissenschaftlichen Forschungen über den Großen Basar beteiligt war.
Er sprach außerdem deutsch und konnte daher ihre Arbeit lesen. Er betreute sie in Istanbul während ihrer neunmonatigen Feldforschung, las ihre Kapitelentwürfe und überprüfte ihre türkischen Übersetzungen. Selbst als die Dissertation auf dem Postweg zu ihm war, während die Türkei den Putschversuch erlebte, tat er sein Bestes, das Betreuungsverhältnis zu einem guten Ende zu führen. Er wollte ihrer Doktorarbeit schließlich ein „Summa“ verleihen. Der deutsche Doktorvater vertrat eine andere Ansicht. Ein dritter Gutachter von der deutschen Universität wurde hinzugezogen.
…. und die emotionale Seite der Wissenschaft
Wissenschaft, so fasst Gabriele, die Beziehungsforscherin, ihren Eindruck zusammen, werde oftmals für Macht und Ausgrenzung missbraucht, statt die eigene „Standortbezogenheit des Denkens“ (Karl Mannheim) zu hinterfragen. Die Soziologin sieht, dass Emotionen und Gefühle von der Sprache in der heutigen Wissenschaft abgespalten werden, „Kritik“ werde dann oft ein Reflex zur Abwehr eigener unguter Emotionen. Das trägt ihrer Ansicht nach nicht zur Aufklärung und zum Nachdenken über die eigene Rolle und Rollenbilder im Forschungsprozess bei.
Nach meiner langjährigen Erfahrung als Schreibcoach für Promovierende sehe ich in Gabrieles Geschichte tatsächlich, wie sehr ihr Projekt offenbar bei „den anderen“ unangenehme Gefühle auslöste – in Form von Neid und Angst, Beschämung und Abwehr. Solche Emotionen „der anderen“ schieben sich oft buchstäblich „zwischen die Zeilen“. Sie kommen mal als vermeintlich fachliche Kritik daher, mal als unmöglich zu leistender Arbeitsauftrag, und im Schreibcoaching geht es dann darum, die Botschaft „zwischen den Zeilen“ zu entschlüsseln, damit ein guter Text entstehen kann.
Gabriele sagt, sie habe durch die Promotion vor allem gelernt zu entscheiden: „Auf welche Kritik gehe ich ein, auf welche nicht?“ Sie hat – eben gerade dank ihres offenbar unüblichen Forschungsansatzes – zu genau jener selbstbewussten Haltung gefunden, wie sie Astrid Kaiser in ihrem „Reiseführer für die Unikarriere“ so dringlich allen Nachwuchswissenschaftler*innen empfiehlt. Auch Gabriele möchte die Studierenden in ihren Seminaren zum freien und unbefangenen Denken ermuntern. Und zum freien Schreiben anregen! Die Lehre macht ihr Spaß. Das finde ich großartig. Ich wünsche ihr noch viele Gelegenheiten, ihre Erfahrungen in akademischer Selbstbehauptung an Studierende weiterzugeben.