Inga habe ich als engagierte und herzliche Person voller positiver Energie in einem Schreibworkshop für Promovierende kennengelernt. Sie informierte uns Anwesende gleich über ihr Handicap, um die Situation zu klären, aber ich bemerkte von diesem Handicap während des Workshops nichts: Inga ist seit ihrem 2. Lebensjahr schwerhörig. Deswegen bat sie uns um klares, ihr körperlich zugewandtes Sprechen.
Ich traf Inga in anderen Veranstaltungen wieder. Dabei erfuhr ich immer mehr, womit sie zu kämpfen hatte: Dozent.innen verwiesen auf Handapparate statt mit ihr zu sprechen oder meinten, ihre Unsicherheit beim Schreiben bestimmter Textteile belege mentale Schwächen. Mit-Promovierende sahen ihr „besonderes“ Stipendium in der Behinderung motiviert statt in Ingas wissenschaftlichen Kompetenz. Vertreter.innen der Universitätsverwaltung, von Behörden und Institutionen wiederum mochten es kaum glauben, dass eine Schwerhörige promoviert und mit guten Hörgeräten ausgestattet sein muss, um an Kolloquien, Vorträgen und Prüfungen teilzuhaben oder Interviews für ihre Forschung durchzuführen.
Inzwischen wurde Inga mit „summa cum laude“ in Europäischer Ethnologie promoviert. Für mich ist sie unbedingt eine Promotionsheld.in, die nicht nur gegen viele Widerstände ihre Forschung durchgeführt hat. Sie ist trotz allem neugierig geblieben auf neues Wissen und neue Begegnungen. Zurzeit arbeitet sie an einem Postdoc-Projekt. Das hat mich nachhaltig beeindruckt. Ich habe sie gebeten, mir ihren Promotionsprozess zu schildern:
Vom Betreten eines leeren Raums
Die Schriftsprache und auch das Schreiben ihrer Dissertation, sagt Inga, habe sie betreten wie einen leeren Raum. Sie wählt diesen Vergleich als Malerin, die sie auch ist und als Praktizierende der afro-euro-brasilianischen Religion der Umbanda. Im Zentrum der religiösen Praxis stehen Verkörperungsgeschehen. Spirituelle Entitäten – spirits – und Gottheiten – Orixás – werden dabei in den Körpern von Medien inkorporiert. Diese Praxis hat Inga in den vergangenen Jahren als Ethnologin untersucht. Wenn sie wiederum als „Medium“ der Umbanda ein Porträt malt, erforscht sie bei ihren Gegenübern, welches Wesen sich in ihnen offenbar. Für ihre Porträts wählt Inga einen weißen Hintergrund, einen leeren Raum, weil sich dann die Manifestation darin frei entfalten kann.
Von der Schönheit der Schriftsprache
Wenn Inga das Bild des leeren Raums auf ihre Promotion überträgt, betont sie, dass Wissenschaft und Kunst ähnlich kreativ und offen sein sollten für das, was sich an Ideen und Erkenntnissen offenbart. Dieses Bild gefällt mir sehr. Ich deute es so, dass in der Wissenschaft diese Kreativität sozusagen in der Schrift, im Text Gestalt annimmt.
Die Schriftsprache hat für Inga tatsächlich eine eigene Schönheit. Da sie als Kind nur über technische Umwege zur Lautsprache Zugang hatte, beschreibt sie die Schriftsprache fast als physischen Raum, in dem sie sich sicher bewegen kann. Und in dem sie sich immer neue Räume eröffnet und einrichtet. So ging sie während des Studiums nach Brasilien und brachte sich über Texte Hochbrasilianisch bei, das für Brasilianer offenbar eher ungewohnt klingt, wie sie mir erklärte. Sie selbst spricht Hochdeutsch, auch wenn sie aus einer „berlinernden“ Familie stammt. Es freut sie daher besonders, dass in den Gutachten zu ihrer Dissertation gerade die Schönheit ihrer Sprache gewürdigt wird.
Vom Aufschließen des Wissens
Ihren Zugang zur Schriftsprache und zur Welt der Texte fand Inga in der Schule. Sie begann, viel zu lesen. In der Oberschule hörte sie allerdings auf, auch darüber zu reden, nachdem sie Fragen der Lehrkräfte nicht richtig verstanden und deswegen „falsch“ beantwortet hatte. Ihr Sprachgefühl und ihre Sprache, meint Inga, habe sie in dieser Phase durch das Lesen vor allem von Romanen und guten Texten gebildet. Sie schrieb auch selbst viel, Tagebuch und Gedichte.
Ihr nicht-akademisches Elternhaus beschreibt Inga als offen und emotional unterstützend. Neue Zugänge eröffneten ihr aber meist Externe, die durch Hinweise oder Angebote so etwas wie Mentor.innen wurden: Da war die Logopädin, die mit einer freundlichen Stimme dem Kind Inga die Aussprache erklärte und zum Aha-Erlebnis werden ließ. Da war die Freundin der Familie, die Inga Ethnologie als Studienfach vorschlug, ohne genau zu wissen, was dahintersteckte, aber es ihr für Inga passend erschien. Da war – später – die Doktormutter, die Inga zur Promotion ermutigte und sich mit ihr intellektuell ständig austauschte. Da war das Netzwerk der „Disability Studies“, das Inga auf das inklusive Promotionsprogramm von „Promi“ aufmerksam machte, über das sie erfolgreich eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin einwerben konnte. Und da ist die Hörakustikerin, die eigenmächtig Inga mit hochwertigen Hörgeräten ausstattete, um ihr gute Prüfungs- und Bewerbungsgespräche zu ermöglichen.
Die verschlossene Wissenschaftswelt
Denn das deutsche Wissenschaftssystem ist auch im 21. Jahrhundert immer noch wenig inklusiv. Warum muss erst ein eigenes Förderprogramm wie „Promi“ aufgelegt werden, um begabten, aber körperlich beeinträchtigten Graduierten den Einstieg in die Wissenschaft zu ermöglichen? Inga ist die erste weibliche erfolgreiche Absolventin dieses Programms, dessen Finanzierung im Übrigen inzwischen auch wieder abgelaufen ist.
Das Wissenschaftssystem beruht leider immer noch auf dem Bild des männlich-weißen, bildungsbürgerlichen und mobilen Wissenschaftlers, dem zu Hause von seiner Frau oder seinen Eltern der Rücken freigehalten wird. Dieser „Norm-Wissenschaftler“ wird bisher nicht wirklich hinterfragt. Vielmehr ist es im Fördersystem für Promovierende noch so lebendig, dass allein die Gleichstellung von Frauen nur zäh vorankommt. Für eine Frau wie Inga, die aus einem nicht-akademischen Haushalt stammt und zudem körperlich beeinträchtigt ist, ist der Zugang also gleich dreifach erschwert.
Der Raum der Wissenschaft ist noch ziemlich verschlossen. Deswegen gefällt mir Ingas Metapher vom „leeren Raum“ so gut. Ich wünsche mir jedenfalls mehr Menschen mit solch diversen Lebensläufen und Interessen in der Wissenschaft. Sie bringen gerade mit ihrem besonderen Körperwissen neue Erfahrungen und Fragen hinein. Darin steckt für mich viel Kraft und Kreativität.
So deutet Inga das Verkörperungsgeschehen der afro-euro-brasilianischen Umbanda-Religion als ein „Archiv für die Weitergabe von kollektiven Traumata“ der Sklaverei. Diese Verkörperungen würden – so Ingas These – zu einer Aufarbeitung, einer De-Kolonialisierung des Denkens beitragen. Zu diesem Ergebnis kommt Inga, weil sie sich mit ihrer ganzen Person – als Ethnologin, Medium und Künstlerin – auch körperlich in diese Forschung hineinbegeben hat. Ich wünsche mir sehr, dass sie ihren Weg in der Wissenschaft weitergehen kann und dort für sich und andere neue Denk-Räume aufschließt.
Publikationen von Inga Scharf da Silva
- Dissertation: Inga Scharf da Silva (2022), Trauma als Wissensarchiv. Postkoloniale Erinnerungspraxis in der Sakralen Globalisierung am Beispiel der zeitgenössischen Umbanda im deutschprachigen Europa, Marburg: Büchner-Verlag (Verlagsseite)
- Inga Scharf da Silva (2004), Umbanda. Eine Religion zwischen Candomblé und Kardezismus. Über Synkretismus im städtischen Alltag Brasiliens, Hamburg: Lit-Verlag (Download)
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